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Begrenzte finanzielle Ressourcen und eine mangelnde Rücksichtnahme auf die lokalen Bedürfnisse sind die Hauptgründe dafür, dass die Produkte der großen Konzerne im ländlichen Indien kaum Absatz finden. Einen Ausweg aus dieser misslichen Lage verspricht die Entwicklung so genannter "Frugal Innovations", bei denen radikal auf eher unnötige Anwendungen und Details von Produkten verzichtet wird, um den Preis so weit senken zu können, dass die Produkte auch für Geringverdiener erschwinglich werden. Was sich in der Theorie gut anhört, erweist sich in der Praxis jedoch häufig als schwierig.
Insbesondere die westliche Öffentlichkeit staunte nicht schlecht, als im Juli des vergangenen Jahres aus dem fernen Indien die Nachricht kam, man beabsichtige dort einen Computer für den sagenhaft niedrigen Verkaufspreis von 35 US$ herzustellen. Einen Computer für 35 US$? Wie sollte dies möglich sein? Jede Handwerkerstunde in Deutschland kostet mehr. Konkret handelte es sich hierbei um einen Tablet-PC mit Touch-Screen, der speziell für Schüler und Studenten konzipiert ist und der mit dem Open-Source-Betriebssystem Linux laufen soll. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde am Rande der Präsentation auch verlautbart, man habe das Ziel, den Preis weiter auf 10 US$ zu senken � dafür bekommt man in Deutschland ein Taschenbuch. Die Tatsache, dass mit Kapil Sibal ein Politiker das Projekt vorgestellt hat, weist derweil darauf hin, dass es bei der �Frugal Innovation�-Philosophie vor allem im Falle von Indien nicht ausschließlich um rein betriebswirtschaftliche Erwägungen geht, sondern dass damit auch originär politische Ziele verfolgt werden sollen. Unter dem Stichwort "inclusive growth" ist in Indien schon seit Längerem eine Debatte im Gange, bei der es darum geht, praktikable Konzepte zu entwickeln, wie auch diejenigen Bevölkerungsschichten am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können, an denen dieser bislang nahezu spurlos vorübergegangen ist. Ein dringender Handlungsbedarf wird hierbei nicht zuletzt deshalb gesehen, weil die bis dato äußerst einseitige Verteilung der erzielten Wohlfahrtsgewinne die Unterstützung für unbedingt notwendige weitere Liberalisierungsschritte untergräbt.
Eine stärkere Inklusion der Gesamtbevölkerung soll eben dadurch erreicht werden, dass kostengünstige und auf die jeweiligen Belange des "Bottom of the Pyramid" in "under-penetrated markets" zugeschnittene Produkte und Dienstleistungen angeboten werden.
Hierbei beziehen sich indische Unternehmen bewusst auf das "Jugaad"-Konzept, worunter ein unter der indischen Landbevölkerung weit verbreitetes Verfahren zu verstehen ist, bei dem aus wenigen Mitteln ein funktionsfähiges Produkt ohne Zusatzleistungen � in der Hauptsache Transportmittel � hergestellt und häufig auf ungebrauchte Teile anderer Produkte zurückgegriffen wird. Abgesehen von diesem hinlänglich erprobten Alternativ-Modus spricht angesichts der dezidiert politischen Zielsetzungen bei der Ansprache ärmerer Bevölkerungsschichten jedoch einiges dafür, dass beim Setzen auf "Frugal Innovation"-Lösungen gewisse Konflikte mit betriebswirtschaftlichen Erfordernissen unvermeidbar sind. Vor allen Dingen müssen diese Produktvarianten schnell und in großer Anzahl verkauft werden, damit die Unternehmen bei den niedrigen Preisen akzeptable Gewinne erzielen können. Darüber hinaus wäre im Einzelnen zu prüfen, für welche Käufergruppen diese "abgespeckten" Produkte überhaupt interessant sind. Dabei ist die Logik dieser neuen Managementphilosophie eigentlich bestechend. Der Professor für Technologie- und Innovationsmanagement Cornelius Herstatt von der Technischen Universität Hamburg-Harburg bringt den Ansatz folgendermaßen auf den Punkt: "Man stellt fest, dass existierende Produkte in ihrer gängigen Konfiguration für die Mehrheit der Konsumenten im Lande einfach viel zu teuer sind und gleichzeitig Funktionalitäten enthalten, auf die verzichtet werden kann. Man konzentriert sich daher auf das Wesentliche." Hinzu komme laut Herstatt, dass die Produkte auch "eine gewisse Robustheit aufweisen und mit fehlender Grundinfrastruktur auskommen müssen". Genau diesen Maximen scheint das 35-US-US$-Tablet-Projekt zu folgen.
Allerdings: Neu sind derartige groß angekündigte Innovationskampagnen in Indien nicht. Bereits im Jahr 2005 wurde die Entwicklung eines "1-Gigahertz-Rechners" für 190 Euro angekündigt. Und vor knapp zwei Jahren wurde schon einmal im Rahmen der Aktion "One Laptop per Child" die Idee eines 100-US$-Laptops ventiliert. Geschehen ist dann nicht viel, was darauf hinweist, dass diese konsequente Vereinfachungsstrategie möglicherweise ihre Grenzen hat. So ist beispielsweise weiterhin unklar, ob und wie die Produktionspreise tatsächlich real derart gering gehalten werden können. Trotz der geplanten hohen Abnahmemengen und damit einhergehender Skalenerträge (economies of scale) hat sich schon beim 100-US$-Laptop gezeigt, dass der Preis eigentlich 188 US$ betragen müsste. Weitere Schwierigkeiten bestehen darin, Produzenten und Lieferanten zu finden, welche die Produkte herstellen bzw. diese mit den notwendigen Komponenten und Materialien versorgen können. Insbesondere etablierte Hersteller dürften den Verlust ihrer Produktionsaufträge von westlichen Konkurrenten fürchten, wenn sie reduzierte Varianten von Produkten herstellen.
Ein weiteres Beispiel für überzogene Erwartungen ist die mit großem Tamtam betriebene Einführung des Mini-Autos Nano aus dem Hause Tata. Als veritabler Hoffnungsträger gepriesen, entwickelten sich die Absatzzahlen aber eher schleppend. Der Verkaufspreis von einem Lakh (das heißt: 100.000 Rupien; 1.620 Euro, 1 Euro = 61,64 ind. Rupien, 3-Monatsmittel) war zwar umsetzbar, gleichwohl musste Tata Motors feststellen, dass das Image des Autos nicht mit dem Selbstbild der potenziellen Käufer übereinstimmt. Denn exakt die Schicht, die sich einen Nano leisten könnte, die indische Mittelklasse also, legt einen gesteigerten Wert darauf, ihre finanziellen Möglichkeiten auch offensiv demonstrieren zu können � und kauft gerade deshalb nicht den Nano, da dieser als reines Basic-Fahrzeug gilt. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die folgende Frage: Können frugale Innovationen eventuell nur bei Produkten erfolgreich sein, mit denen kein sozialer Status verbunden ist und bei denen Emotionen keine Rolle spielen? Demnach würde das Konzept lediglich bei Produkten zur reinen Funktionserfüllung verfangen. Basic-Produkte wie der Wasserfilter Swach von Tata oder auch Nokias 1100-Mobiltelefon mit Taschenlampen-Funktion sind jedenfalls alles andere als Prestigeprodukte, sondern schlicht praktisch. Vielleicht sind sie eben deshalb auch erfolgreich.
Ein Grund, warum indische Firmen verstärkt auf �Frugal Innovation�-Konzepte setzen, könnte auch in dem Umstand begründet sein, dass sie in Ermangelung von ausdifferenzierten Innovationskompetenzen schlicht keine andere Wahl haben, als sich auf "abgespeckte" Variationen von westlichen Produkten zu fokussieren. Diese Einschätzung wird im Grundsatz auch von Professor Herstatt geteilt. "Abgesehen von den Hochtechnologie-Branchen, wie etwa IT und Biotechnologie, geben indische Unternehmen nicht viel Geld für F&E aus. Nach aktuellen Berechnungen sind dies gerade mal 0,55 Prozent des Umsatzes. Somit fehlt es in Indien sicherlich an der technologieorientierten Innovationskultur." Ein Faktor, der diese Defizite erklärt, liegt für Herstatt auch darin, dass die indische Volkswirtschaft lange Zeit weitgehend vom Weltmarkt abgeschottet war und die sich aus dem mangelnden Konkurrenzdruck ergebenden Strukturmängel nur langsam überwunden werden können. So gesehen ließe sich argumentieren, dass das Setzen auf "Frugal Innovation"-Methoden nicht zuletzt auch eine Art Ersatzstrategie zur Kompensierung von unternehmerischen Schwächen darstellt.
Im Zusammenhang mit der Diskussion, ob frugale Innovationen tatsächlich einen signifikanten Entwicklungsschub für die indische Ökonomie erzeugen können, ist auch nach den Auswirkungen dieses Trends für westliche Unternehmen zu fragen. Hier könnte man annehmen, dass die Inder versuchen werden, mit diesen unschlagbar günstigen Produkten auf die westlichen Märkte zu drängen. Dieses Szenario kann indes als relativ unwahrscheinlich angesehen werden. Denn diese Produkte sind auf die spezifischen Grundbedürfnisse ärmerer Bevölkerungsschichten in Indien ausgerichtet und dürften somit kaum Abnehmergruppen in Europa oder den USA finden. Hinzu kommt, dass die westlichen Unternehmen derzeit von der Entwicklung frugaler Innovationen durchaus profitieren, da Indien aufgrund fehlender Expertise noch auf deren Kooperation angewiesen ist. Professor Herstatt macht diesen Punkt an einem Beispiel deutlich: "Man schätzt, dass im Tata Nano alleine Bosch einen Wertschöpfungsanteil von 10 Prozent hält."
Ein positiver Effekt für westliche Unternehmen kann auch darin gesehen werden, dass sie selbst aus den indischen Erfahrungen für die Variation ihrer eigenen Produkte lernen können und früher oder später indischen Unternehmen auf deren Märkten Konkurrenz machen dürften. In diesem Sinne stellt dieser Trend für europäische und US-amerikanische Firmen eher eine Chance dar, "weil man durch diese letztlich Zugang zu bisher unerschlossenen Märkten mit großem Volumenpotenzial erlangen kann", so der Management-Experte Herstatt weiter. Allerdings, so lässt sich abschließend festhalten, stellen frugale Innovationen weder ein Allheilmittel zur Lösung von sozialen Problemen dar noch kann in ihnen ein Patentrezept zu Behebung eines gravierenden Innovationsdefizites gesehen werden. Dafür sind die mit dem Konzept verbundenen Intentionen einfach zu widersprüchlich. Letztlich handelt es sich bei ihnen primär, um eine aus der Not heraus geborene Tugend, mit der sich in bestimmten Produktkategorien partielle Erfolge erzielen lassen. Und in dem Maße, wie indische Unternehmen mittel- und langfristig absehbar ihre Innovationskompetenzen stärken werden, dürfte dieses Management-Tool wohl sukzessive an Bedeutung verlieren.
Adressen
Univ.-Prof. Dr. Cornelius Herstatt
Institut für Technologie- und Innovationsmanagement
Technische Universität Hamburg-Harburg
Email: [email protected]