Startseite | Abonnements | Wirtschaftsreports | Anzeigen | Wirtschaftsbücher Asien |
BERLIN. Bei den indischen Parlamentswahlen im Jahr 2004 trat die regierende BJP-Partei mit dem reichlich selbstgefälligen Slogan "India Shining" an. Damit sollte auf den außergewöhnlichen Wirtschaftsaufschwung der vorangegangenen Jahre verwiesen und gewissermaßen eine Prämie für die damalige Regierung eingefordert werden.
Bekanntlich hat die von der BJP angeführte Allianz die Wahl dann deutlich an das Kongress-Bündnis verloren. Was die Parteistrategen übersehen hatten, war der Umstand, dass den niederen Kasten und der Masse der armen Landbevölkerung diese Losung angesichts ihrer völlig desolaten Lebensumstände wie blanker Hohn vorkommen musste. Trotz dieser klaren Lektion ist die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der indischen Eliten als aufstrebende Wirtschaftsmacht und der realen Lage weiter Teile der Bevölkerung weiterhin übergroß.
Bei den auch in Indien unvermeidlichen Sonntagsreden räumen sensiblere Vertreter der politischen Klasse zwar ein, dass der Aufschwung noch nicht überall angekommen ist, weshalb diesbezügliche Anstrengungen nötig seien. Grundsätzliche Zweifel an der eingeschlagenen Richtung lassen sie aber nicht zu. Die in Neu-Delhi lehrende Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik geht hier einen Schritt weiter und behauptet, dass es nicht nur nicht gelungen sei, die Armut zu wirksam zu bekämpfen, vielmehr hat sich das Ausmaß von Armut, Hunger und Unterernährung aufgrund der verfolgten Politikansätze weiter erhöht. In weiten Teilen des Landes sei ein Ernährungsniveau anzutreffen, das dem von Subsahara-Afrika entspreche.
Insbesondere stellt Patnaik das herrschende Dogma infrage, dass von einem Wirtschaftsaufschwung auf Dauer alle Bürger profitieren würden. In der Praxis habe sich stattdessen gezeigt, dass dieselben Maßnahmen, die eine Besserstellung der Mittelschichten zur Folge hatten, die sozialen Probleme weiter verschärft haben. So wird etwa die Landbevölkerung, die 70 Prozent der Bevölkerung ausmacht, kompensationslos von ihrem Ackerland vertrieben, um Platz für neue Industriebetriebe zu schaffen. Kritisch ist auch die Umstellung der Bewirtschaftung von Nahrungsmitteln auf exportierbare Erzeugnisse wie Baumwolle. Und ganz allgemein haben drastische Subventionskürzungen die Bauern in eine Schuldenspirale getrieben, aus der sie keinen Ausweg finden. Korruption und Bürokratie verschlimmern die Lage zusätzlich.
Die Tendenz, die armen Schichten systematisch von der Mitbestimmung bei der Entwicklungsplanung auszuschließen, führt laut Patnaik dazu, dass die sozialen Spannungen ständig zunehmen und sich womöglich explosiv entladen werden. Die Ignoranz der Eliten weist Patnaik plausibel durch eine Analyse der amtlichen Statistiken nach, welche die tatsächlichen Zustände mindestens verschleiern. Ein Manko der Aufsatzsammlung ist jedoch der apodiktische Tonfall: An jeder sich bietenden Stelle geißelt die Autorin die "neoliberale Ideologie", die das Handeln der Verantwortlichen bestimmt.
Dabei sind ihre Ausführungen an sich aussagekräftig genug. So aber läuft sie Gefahr, mit ihrem unzweifelhaft berechtigten Anliegen in die Querulantenecke gestellt zu werden. Zudem geht die Fundamentalkritik an der Öffnung des Landes, zu der es keine nachvollziehbare Alternative gibt, zu weit. Insgesamt kann Patnaik aber attestiert werden, auf gravierende Defizite der indischen Wirtschafts- und Sozialpolitik hingewiesen zu haben.
Buchdaten
Buchtitel - Unbequeme Wahrheiten
Buchautor - Utsa Patnaik
Verlag - Draupadi Verlag
Ort und Jahr - Heidelberg, 2009
ISBN - 9783937603377
Preis - € 19,80