Nachdem die Kongresspartei die Parlamentswahlen mit einem � f�r indische Verh�ltnisse � herausragenden Ergebnis gewinnen konnte und fortan in einer einigerma�en koh�renten Koalition regieren kann, ist es an der Zeit, einmal gr�ndlich �ber die m�glichen Entwicklungslinien des Landes zu reflektieren.
Dies wurde in j�ngster Zeit etwas vernachl�ssigt, weil die zwischenzeitlich kultivierten Niedergangsszenarien den Blick auf die Bedingungen des indischen Aufstiegs, seine Perspektiven und Grenzen verstellt haben. Aber zum Gl�ck gibt es die gute alte �Neue Z�rcher Zeitung�, die seit jeher den Benchmark f�r kompetente Auslandsberichterstattung abgibt.
Zu den besten Pferden im Stall der NZZ geh�rt der Ostasien-Korrespondent und Vielschreiber Urs Schoettli, der nun eine philosophisch orientierte Einsch�tzung der indischen Spezifika vorgelegt hat: Ausgehend von der Pr�misse, dass Indien zu den komplexesten L�ndern �berhaupt geh�rt, beleuchtet Schoettli zun�chst die Hintergr�nde des Selbstverst�ndnisses Indiens. Er weist darauf hin, dass sich das Adjektiv �indisch� weniger auf eine nationalstaatliche Zuschreibung als vielmehr auf ein in ganz S�dasien anzutreffendes und von der hinduistischen Religion �berw�lbtes Ethos bezieht, das sich durch eine hohe Toleranz gegen�ber allen erdenklichen Religionen und Lebensformen kennzeichnet. Allerdings gerate dieses Toleranzmodell zunehmend unter Druck: Speziell der islamistische Fundamentalismus sei zu einer elementaren Herausforderung avanciert.
Von besonderer Brisanz ist dabei, dass sowohl in den Nachbarl�ndern Bangladesch und Pakistan als auch in Indien selbst eine Radikalisierung der Muslime stattgefunden hat. Zumindest im Inneren besteht f�r Schoettli angesichts einer funktionierenden Demokratie aber die Chance, ein friedliches Zusammenleben zwischen den einzelnen Bev�lkerungsteilen zu organisieren. Zwar f�hre die Demokratie kurzfristig � etwa im Vergleich zu China � zu einem langsameren Entwicklungstempo, aber langfristig sei sie, im Gegensatz zu einer Entwicklungsdiktatur, ein Garant f�r Stabilit�t. Zu den dringlichsten Herausforderungen der indischen Demokratie geh�rt es demgegen�ber, einen Ausgleich zwischen dem modernen und dem traditionellen Indien zu schaffen.
Erschwert werden entsprechende Ma�nahmen durch den Umstand, dass der Hinduismus sozialer Verantwortung keine gro�e Bedeutung beimisst, weshalb kaum sozialstaatliche Verantwortung wahrgenommen wird und im �brigen auch die �ffentlichen G�ter wie etwa die Infrastruktur vergammeln. Ein umfassender Mentalit�tswandel ist laut Schoettli nicht zu erwarten, da die indische Einstellung zum Leben st�rker als in anderen asiatischen Staaten durch spirituelle und existenzialistische Werte gepr�gt ist.
Dennoch werden der technologische Wandel und die anhaltende wirtschaftliche Dynamik partielle gesellschaftliche Ver�nderungen hervorrufen, die wiederum Spannungen beg�nstigen werden. Da die urbanisierten Inder buchst�blich in einer anderen Welt leben, wird es bei der Verarbeitung von Modernisierungsbr�chen prim�r auf die religi�sen F�hrer ankommen. Dabei k�nnte sich der indische Hang zum Fatalismus insofern stabilit�tsf�rdernd auswirken, als er zur Gelassenheit und zur Bew�hrung in der Krise beitr�gt.
Insgesamt gelangt Schoettli zu dem Urteil, dass Indien zwar nicht wie China zur Weltmacht, aber unzweifelhaft zur Gro�macht aufsteigen wird. Schoettlis Studie stellt eine tiefgr�ndige Analyse dar, die selbst f�r Indien-Kenner diverse Aha-Erlebnisse bereithalten d�rfte.
Urs Schoettli, Indien. Profil einer neuen Grossmacht, Verlag Ferdinand Sch�nigh, Paderborn 2009, 189 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978-3-506-76774-5