Berlin. Im Wettbewerb um Wachstumschancen sind Staaten gezwungen, alle Möglichkeiten konsequent zu nutzen. Neben den rein nationalen Kraftreserven können auch die regionalen Ressourcen zum kollektiven Vorteil erschlossen werden. Obwohl Projekte zur regionalen Kooperation in Asien deutlich an Popularität gewonnen haben, bleiben die Potenziale immens. Am weitesten fortgeschritten ist hier Südostasien, das im Rahmen des ASEAN-Verbundes vor einem Quantensprung steht: Ende 2015 fällt der Startschuss für die ASEAN Economic Community (AEC), die für die ASEAN-Staaten aber auch für deren Handels- und Investmentpartner ein neues Handlungsumfeld bringen wird. Die erste Herausforderung besteht schon darin, zu verstehen, worum es dabei eigentlich genau handelt.
Aller politischen Gipfeltreffen-Lyrik zum Trotz lässt sich das AEC-Projekt auf einen ziemlich harten ökonomischen Kern reduzieren: Insgesamt geht es darum, die bereits bestehende Freihandelszone AFTA (ASEAN Free Trade Area) sukzessive und perspektivisch zu einer Wirtschaftsgemeinschaft mit den Merkmalen eines gemeinsamen Marktes vergleichbar mit dem der Europäischen Union weiterzuentwickeln. Die formale Handelsliberalisierung im ASEAN-Raum ist bereits weit vorangekommen ? 99,5% der intra-ASEAN-Zölle bewegen sich in einem Niedrigbereich von 0 bis 5%. Im Zuge der AEC geht es nun gezielt um den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse, um Erleichterungen bei den Zollformalitäten und um die gegenseitige Anerkennung und Harmonisierung von Standards und Regulierungen für verschiedene Produktgruppen. Als Zielperspektive soll ein freier Kapital-, Güter- und Dienstleistungsverkehr etabliert und qualifizierten Arbeitskräften eine freie Mobilität gewährt werden.
Vorzug Heterogenität
All diese Teilaspekte sollen eine noch weiter spezialisierte regionale Produktion im Sinne der Nutzung komparativer Vorteile anregen und dabei in erster Linie neue Wachstumsimpulse und handelsschaffende Effekte erzielen. Letztere sind ein spezielles AEC-Ziel, denn bislang ist der intra-regionale Handel im ASEAN-Raum mit nur rund 25% ? etwa im Vergleich zur EU ? relativ gering. Mit anderen Worten: angestrebt wird eine bessere Allokation der vorhandenen regionalen Ressourcen. Und die Chancen, dass dieses Ziel tatsächlich wie geplant realisiert werden kann, stehen insgesamt nicht schlecht. Denn der große Vorzug der ASEAN-Region mit ihren 615 Millionen Einwohnern ist in jedem Fall in den sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus der einzelnen Mitgliedstaaten zu sehen: An der Spitze der ASEAN-Pyramide steht der glitzernde postmoderne Finanz- und Dienstleistungshub Singapur, das eine übergeordnete Funktion als regionale Quelle für die Bereitstellung von Kapital und technischem und Management-Know-how spielen kann.
Dann folgt gewissermaßen die südostasiatische Mittelschicht mit einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen bestehend aus Malaysia, Thailand, Indonesien und den Philippinen. Diese bevölkerungsstarken Volkswirtschaften haben in den letzten Jahren zum Teil erhebliche technologische Fortschritte gemacht und vielfach bereits die wichtige Schwelle von der kostengünstigen Massenproduktion hin zur höherwertigen Spezialherstellung überschritten. Die dritte Gruppe besteht aus den Entwicklungsländern Kambodscha, Vietnam, Laos und dem erst vor kurzem geöffneten Myanmar. Diese Volkswirtschaften stehen erst am Beginn ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und versuchen bei auswärtigen Investoren folglich vor allen Dingen mit günstigen Lohnstrukturen zu punkten.
Regionales Plusgeschäft
Diese regionale Dreiteilung stellt im Prinzip eine nachgerade ideale Ausgangslage für die Verlagerung von Wertschöpfungsaktivitäten genau dorthin dar, wo sie am relativ besten durchgeführt werden können. Die schon weiter entwickelten Staaten können Teile ihrer arbeitsintensiven Massenproduktion, denen sie ausnahmslos ihren ökonomischen Aufstieg zu verdanken haben, in die weniger weit erschlossenen Nachbarländer verlagern und sich fortan gezielt auf den Auf- und Ausbau anspruchsvollerer und einträglicher Wirtschaftssparten fokussieren. Die schwächeren Länder mit niedrigeren Lohnkosten wiederum erhalten einen Wachstumsschub und profitieren vor allem von der Schaffung neuer Arbeitsplätze im größeren Stil. In der Summe handelt es sich dabei ? zumindest in der Theorie ? für alle Beteiligten um ein Plusgeschäft. Plausibilität gewinnt das AEC-Vorhaben jedenfalls nicht zuletzt auch dadurch, dass es sich bei Südostasien ? trotz der jüngsten massiven Abflüsse von Portfoliokapital ? um eine der ökonomisch agilsten Regionen der Welt handelt.
In den letzten 15 Jahren ist die Gruppe um rund 6% pro Jahr gewachsen. Ein zentrales Pro-Argument ist die schiere Größe des im Jahr 1967 gegründeten ASEAN-Blocks: Zusammengenommen weisen die ASEAN-Staaten hinter China und Indien die drittgrößte Bevölkerung der Welt auf. Die kumulierte Wirtschaftskraft liegt aktuell bei 2,3 Billionen US$. Hinzu kommt noch eine positive demografische Entwicklung in den meisten Mitgliedsstaaten, sodass die Region als lukrativer Zukunftsmarkt für die verschiedenen Zweige der Konsumgüterbranche gilt.
In den einschlägigen Vergleichsindexen zur Einschätzung der Wettbewerbsfähigkeit wie Global Competitiveness Index des World Economic Forum konnten die südostasiatischen Länder zuletzt Boden gut machen. Parallel herrschen im ASEAN-Raum vergleichsweise stabile politische Bedingungen, die ein kalkulierbares Investitionsumfeld schaffen.
Die Lohnstrukturen sind trotz Erhöhungen immer noch so attraktiv, dass eine Reihe von arbeitsintensiven Unternehmen ihre Fertigungsstätten von China nach Südostasien verlagert haben. Neben dem Zufluss von Investitionen von außen profitiert die ASEAN auch von dem Umstand, dass die wechselseitige Verflechtung bei den Direktinvestitionen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat ? ihr Anteil liegt derzeit bei rund einem Fünftel der Gesamtzuflüsse. Zu den Vorreiterbranchen bei der Herausbildung einer vertieften regionalen Arbeitsteilung gehören auch in Südostasien der Automobilbau und die Elektroindustrie. Weitere Sektoren, bei denen die ASEAN-Staaten attraktive Fertigungsbedingungen vorweisen können, sind die Textil- und Bekleidungsherstellung, die Chemie-und Gummiproduktion, die Nahrungsmittelbranche sowie die Anfertigung von Eisen- und Stahlprodukten.
Komplexes Maßnahmengeflecht
Das Fundament für die AEC wurde im Jahr 2003 im Rahmen des ASEAN Concord II gelegt, wobei neben einer wirtschaftlichen auch eine Sicherheitsgemeinschaft und soziokulturelle Gemeinschaft verabredet wurde. Wie auch im Falle der EU soll die wirtschaftliche Integration auch bei ASEAN den Weg für Fortschritte in den anderen Gebieten bahnen. Geht man ins Detail, wird man feststellen, dass es sich bei der AEC um ein sehr komplexes Gesamtpaket mit diversen Einzelmaßnahmen handelt. So wird neben einem freien Güterverkehr auch ein freier Dienstleistungsverkehr angestrebt (ASEAN Framework Agreement in Service, AFAS).
Zudem soll im Rahmen des ASEAN Comprehensive Investment Agreement (ACIA) ein ASEAN weit gültiges Investitionsabkommen verwirklicht werden. In diesem Zusammenhang geht es auch um eine weitere Liberalisierung des Kapitalverkehrs sowie um eine stärkere Verknüpfung zwischen den nationalen Kapitalmärkten. Weiter wurden zwölf prioritäre Wirtschaftssektoren identifiziert, in denen die Herausbildung von grenzüberschreitenden Produktionsmustern gefördert werden soll. Hierzu gehören die Landwirtschaft, der Luftverkehr, die Automobilproduktion, die Herstellung elektronische Güter, der Gesundheitssektor, die Textilherstellung sowie die Tourismusindustrie. Des Weiteren steht die Einführung eines gemeinsamen Lufttransportmarktes (ASEAN Single Aviation Market) ganz oben auf der Agenda.
Potenziale allein reichen nicht
Was sich allerdings auf dem Papier so schön liest, ist in der Realität mit vielen praktischen Herausforderungen verbunden. Denn zum einen muss bei derartigen nationenübergreifenden Projekten immer ein Ansatz gefunden werden, bei dem die stärkeren Partner zufriedengestellt und die schwächeren nicht überfordert werden. Dabei darf nicht übersehen werden, dass durch die AEC-Maßnahmen der Standortwettbewerb unter den Mitgliedsstaaten unter Umständen beträchtlich erhöht wird, wobei es naturgemäß auch Verlierer geben wird.
Hier hat man beispielsweise den besonderen Herausforderungen für die sogenannten CVLM-Ländern (Cambodia, Vietnam, Laos, Myanmar) Rechnung getragen und gewährt ihnen Sonderregelungen und verlängerte Fristen, die dabei helfen sollen, den Übergang zu erleichtern. Insgesamt ist aber unklar, inwieweit die Gemeinschaft in der Lage sein wird, Transferleistungen zum Abbau der strukturellen Unterschiede aufzubringen. Zwar sollen im Rahmen des ASEAN Framework Agreement for Equitable Economic Development (AFEED) Fazilitäten zum Abbau der Entwicklungsunterschiede geschaffen werden. Um hier aber wirklich spürbare Effekte zu erzielen, dürften eindeutig die Mittel fehlen.
Zum anderen muss auch gezielt dafür Sorge getragen werden, dass die zweifelsohne vorhandenen Potenziale realiter auch gehoben werden können. Hierzu bedarf es insbesondere einer leistungsfähigen Infrastruktur und entsprechender administrativer Einrichtungen. Um im Infrastrukturbereich zu Fortschritten zu kommen, wurde ein ASEAN Masterplan on Connectivity aufgelegt. Hier kursiert eine Vielzahl von hochfliegenden Ausbauplänen, wobei nicht immer ganz klar ist, was realisierbar und was reine Fantasie bleiben wird.
Insgesamt wird es sich bei der AEC um wohl einen schrittweisen Prozess handeln, der die hochgesteckten Erwartungen permanent enttäuschen, dabei aber Stück für Stück konkrete Verbesserungen erbringen wird. Die Investoren werden genau prüfen, in welchen Bereichen die Erwartungen erfüllt werden und wo sich Kalkulationen aufgrund vorerst unüberwindbarer Hindernisse als Wunschträume entpuppen. Jedenfalls ? so viel lässt sich vorab sagen ? wird die AEC maßgeblich dazu beitragen, den Stellenwert Südostasiens als ökonomisch verheißungsvolle Weltregion zu verbessern.