BERLIN. Es ist schon eigenartig: Obwohl inzwischen ein beträchtlicher Teil der in Europa und den Vereinigten Staaten vertriebenen Waren und Güter in China hergestellt oder zumindest vorproduziert wird, muss das Wissen über die naturräumlichen, politischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens dieses so eminent wichtigen Handelspartners nach wie vor als defizitär betrachtet werden.
Dabei liegen die Konsequenzen dieses Mankos klar auf der Hand: Ohne eine halbwegs realistische Kenntnis der respektiven Werte, Interessen und Vorstellungen sind Konflikte gewissermaßen vorprogrammiert. Aber mehr noch: Ohne eine präzise Analyse der Fundamente und Determinanten des chinesischen Entwicklungsweges kann auch der überaus komplexe Wandlungsprozess, in dem sich das Land just in diesem Moment befindet, nicht einmal annäherungsweise nachvollzogen, geschweige denn verstanden werden. Dieser Befund mag zunächst vielleicht überraschen, erscheinen doch unablässig Publikationen über chinabezogene Fragestellungen. Woran es mangelt, sind aber nicht so sehr aus einem "Kulturschock" gespeiste Erfahrungsberichte oder Abhandlungen über einzelne Detailfragen, sondern Überblickswerke, die eine valide Einschätzung der chinesischen Spezifika ermöglichen.
Ein in diesem Sinne herausragendes Erzeugnis ist "Das Grosse China Lexikon", das vom Primus Verlag nochmalig, als Sonderausgabe - und diesmal zu einem auch für allgemein Interessierte erschwinglichen Preis - aufgelegt wurde. Aus einem Forschungsprojekt des renommierten Instituts für Asienkunde in Hamburg entstanden, liegt hier ein Nachschlagewerk mit einem enzyklopädischen Umfang vor. Schon allein die Zahlen sind imposant: Auf 974 Seiten behandeln insgesamt 261 Autoren in 441 Einträgen alle nur erdenklichen Aspekte zu China, seiner Geografie, Geschichte und Gesellschaft etc. Das Themen-Spektrum lässt jedenfalls keine Wünsche offen: Was war der eigentliche Zweck der berühmt-berüchtigten Tributsystems? Was hat der Konfuzianismus über technologische Neuerungen zu sagen? Auf welche historischen Vorläufer kann das private Unternehmertum verweisen? Existieren historische Anknüpfungspunkte im Hinblick auf eine direkte Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten an der politischen Entscheidungsfindung?
Diese Fragen deuten bereits exemplarisch darauf hin, dass die Autoren den Schlüssel zum Verständnis des zeitgenössischen China eindeutig in einer Würdigung der überlieferten Traditionsbestände sehen. Die konsequente Verknüpfung von alt und neu, gestern und heute, Tradition und Moderne verleiht den Beiträgen ausnahmslos eine Tiefendimension, die den Charakter der chinesischen Kultur jenseits plakativer Zuschreibungen überhaupt erst erfassbar macht. Zur angemessenen Auseinandersetzung mit China als einem Untersuchungsgegenstand von monumentalen Ausmaßen gehört auch, dass der gesamte sinophile Kulturraum in den Blick genommen wird. Durch diesen erweiterten Fokus wird ersichtlich, dass es sich bei China keineswegs um ein hermetisch abgegrenztes Gebilde, sondern vielmehr um ein dynamisches Zivilisationsmodell handelt, das sowohl angrenzende Kulturen in vielfältiger Hinsicht geprägt, als auch seinerseits zahlreiche Einflüsse aufgenommen und verarbeitet hat.
Positiv hervorzuheben ist auch die durchweg hohe Verständlichkeit der Beiträge, die garantiert, dass das Lexikon auch für Nicht-Experten eine attraktive Informationsquelle darstellt. Kurzum: Es handelt sich hierbei um einen schier unerschöpflichen Wissenspool, der definitiv keine Fragen über China unbeantwortet lässt.
Buchdaten
Buchtitel - China
Buchautor - Brunhild Staiger / Hans-Wilm Schütte (Hrsg.)
Verlag - Primus Verlag
Ort und Jahr - Darmstadt, 2008
ISBN - 3-89678-582-6
Preis - € 19,90