BERLIN. Reisen ist eine Kunst. Gekonnte Reisereportagen schreiben ebenso. In Zeiten, in denen die Touristikbranche gut ein Zehntel zur globalen Wertschöpfung besteuert, mag diese Einschätzung als pure Egozentrik von etwas überspannten Zeitgenossen erscheinen. Aber worin sollte eigentlich der Sinn liegen, sich all der Strapazen, die jede Reise so mit sich bringt, auszusetzen, wenn dabei nicht ganz außerordentliche Erfahrungen gemacht werden.
Dabei sind ungewöhnliche Erlebnisse weniger unwahrscheinlich, als man meinen könnte. Ist der Besucher auch nur ansatzweise bereit, sich auf sein Zielland einzulassen, wird er sich spezieller Eindrücke kaum erwehren können. Im besten Falle erfährt der Reisende im Laufe der temporären Abwesenheit von seinem abgestammten Lebensumfeld eine Art Transformation, die durchschlagende Konsequenzen für seine weitere Lebensführung haben kann. Voraussetzung für derartige Perspektiveröffnungen sind jedoch Phasen der Überraschung, der Verwirrung, ja zuweilen auch des blanken Entsetzens.
Der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Reiseredakteur Wolfgang Büscher hat für diese folgenschweren Momente den etwas sperrigen Begriff der Absencen gewählt. Er dient ihm, um seiner Sammlung von Erlebnisberichten aus unterschiedlichen asiatischen Ländern, die nun auch als Taschenbuch vorliegt, ein Leitmotiv zu geben. Die Länder Asiens sind für einen Reiseautor dabei insofern dankenswerte Ziele, als es nicht sehr viel Anstrengung bedarf, um die Vielzahl der dort existierenden Denkwelten und Daseinsformen zumindest anzudeuten. Dies gilt natürlich an erster Stelle für den indischen Subkontinent, wo die Unfähigkeit, die endlose Flut der einströmenden Sinnesreize direkt zu verarbeiten, besonders rasch zutage tritt.
In der ersten Geschichte erzählt Bücher, wie ihm in einem verlassenen Hospital in Indien die Bilder des zuvor Erlebten und Gesehenen erneut erfassen: die unfassbare Religiosität der Inder, ihre unergründlichen Gebärden, die Hitze, der Geruch der Verwesung, die bizarren Marotten eines Maharadschas, der einer Affenschar auf der Sitar vorspielt. Dem Fieberwahn nahe, wird ihm klar, dass die Vorstellung vom ?Rad des Lebens?, das alles erbarmungslos überrollt, was sich ihm in den Weg stellt, keine mystische Idee, sondern erfahrbare Realität ist. Bei all seinen Schilderungen gelingt es Büscher meisterhaft, seine Überforderung mit den fremden Welten in wohlklingende Worte zu fassen. Etwa wenn er in Nepal einem Schamanenritual beiwohnt und sich dort dem Sog der allgemeinen Entrücktheit nicht entziehen kann. Oder wenn ihm im Schatten der Tempelruinen von Angkor Wat ein Gefühl der absoluten Bedeutungslosigkeit seiner selbst übermannt. Leicht macht es Büscher sich jedenfalls nicht: Nie genießt er einfach nur die fremdariige Szenerie, immer ist er auf der Suche nach den Hintergrundmelodien der aufgesuchten Kulturen.
Die Leser werden ihm die Anstrengungen danken, werden ihnen doch Einsichten jenseits aller sterilen Reisekatalogphantasien geboten. Kritisieren lässt sich allenfalls, dass Büscher mitunter dazu tendiert, die asiatische Exotik durch besonders knallige Formulierungen einfangen zu wollen, wobei zu derlei akrobatischen Leistungen kein Anlass besteht, denn die asiatischen Erfahrungswelten sind für sich genommen spektakulär genug.
Buchdaten
Buchtitel - Asiatische Absencen
Buchautor - Wolfgang Büscher
Verlag - Rowohlt Taschenbücher
Ort und Jahr - 2010
ISBN - 3-499-24816-6
Preis - € 8,95