BERLIN. Es gilt bei der Mehrzahl der westlichen Beobachter als ausgemachte Sache, dass Indien allerspätestens bis zur Mitte des Jahrhunderts zu einer der international dominierenden Mächte aufsteigen wird. Das Land soll dann in allen wichtigen Bereichen - Wirtschaft, Sicherheit, Wissenschaft, Kultur - eine relevante, wenn nicht führende Rolle spielen.
Dabei lassen die bahnbrechenden Entwicklungen, die in den letzten Jahren auf dem Subkontinent stattgefunden haben, derartige Projektionen ja durchaus als nicht unplausibel erscheinen. Dennoch sollten Skepsis und prüfende Distanz bei aller Verblüffung über die atemberaubenden Veränderungen nicht gänzlich beiseite gelassen werden. Dass die Eliten in Mumbai und Neu-Delhi nach den Jahrzehnten der Zurückweisung, Demütigung und Vernachlässigung angesichts der kursierenden Elogen nun so etwas wie Genugtuung empfinden, ist gut verständlich.
Aber es wäre natürlich vor allem in Indiens ureigensten Interesse, wenn die Dimensionen zurechtgerückt, Unrealistisches kenntlich gemacht und die Probleme beim Namen genannt würden. Das Verdienst, die gängigen Sichtweisen ein wenig gegen den Strich gebürstet zu haben, kommt dabei wieder einmal der eher globalisierungsskeptischen Monatszeitung Le Monde diplomatique zu. Im Rahmen ihrer Editionsreihe werden bereits erschienene Beiträge zu einem Oberthema zusammen mit allerlei Zusatzmaterial wie Personenporträts und Chroniken noch einmal gebündelt veröffentlicht. Es trägt insgesamt zur Glaubwürdigkeit und Authentizität der Le Monde-Beiträge bei, dass die Beiträge überwiegend von Einheimischen verfasst werden.
Schon der Untertitel "Die barfüßige Großmacht" bringt die Sachlage auf den Punkt. Zwar hat Indien in einigen Teilsektoren bereits zur Weltspitze aufgeschlossen. Aber daneben existiert immer noch ? mehrheitlich - das andere Indien. Das Indien des tagtäglichen Überlebenskampfes von Millionen von Kleinbauern, der erbarmungslosen gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen, der virulenten terroristischen Bedrohungen, der zunehmenden Umweltzerstörungen. Es gehört jedoch zum Selbstverständnis von Le Monde, auch die ebenfalls häufig übersehenen hoffnungsvollen Entwicklungen der indischen Gesellschaft darzustellen, namentlich das bunte Gemisch von Sozial- und Umweltaktivisten, politischen Initiativen und Aktionsgruppen Benachteiligter. Und vielleicht ist es weniger der wirtschaftliche Aufschwung als die Bereitschaft der Inder, zu diskutieren und sich einzumischen, die dem Land eine gedeihliche Zukunft versprechen.
Nicht fehlen darf angesichts des Faibles des Blattes für geopolitische Fragen eine Sektion über die Optionen indischer Außenpolitik, in der vor allem die prekäre Lage des Landes ? eingezwängt zwischen China und Pakistan ? zum Ausdruck kommt. Wie kompliziert es für Indien sein wird, seine Interessen auch nur im regionalen Umfeld durchzusetzen, zeigt ein Beitrag über die indische Afghanistan-Politik, bei der man sich in einem harten Konkurrenzkampf mit den Chinesen sieht. Um einer Verengung des Indien-Bildes entgegenzuwirken, wird abschließend noch ein Blick auf die indische Kulturszene geworfen, wo etwa neuere Bollywood-Produktionen das Klischee vom indischen Kino als Hort von platten Schmachtstreifen zu revidieren beginnen. Kurzum: Wer sich einen angemessenen Überblick über das aufstrebende Indien in all seinen Facetten verschaffen will, ist mit der Le Monde-Edition bestens bedient.
Buchdaten
Buchtitel - Indien
Buchautor - Sven Hansen
Verlag - Taz Verlag
Ort und Jahr - Berlin, 2010
ISBN - 9783937683270
Preis - € 8,50