BERLIN. Den asiatischen Gesellschaften wird gemeinhin eine außergewöhnliche Affinität zu kollektivistischen Wertesystemen nachgesagt. Die damit verbundene Zurückstellung des Individuums hinter die jeweilige Gemeinschaft legt die Vermutung nahe, dass es in der Geschichte dieser Länder keine mit der westlichen Kultur vergleichbare Dominanz von ?großen Männern? gegeben hat.
Einmal abgesehen davon, dass in praktisch allen asiatischen Ländern schon seit Längerem ein Aufbrechen der traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu beobachten ist, ist dieses Urteil auch retrospektiv betrachtet zumindest überzogen. Denn natürlich gab und gibt es auch in Asien weltkluge Staatslenker, schillernde Charismatiker und Personen, welche die Geschicke ihres Gemeinwesens auf die eine oder andere Weise maßgeblich beeinflusst haben. Ein besonders markantes Beispiel hierfür stellt das Indien zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes dar, als es mit der Verbindung zwischen Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru zum folgenreichen Zusammentreffen zweier herausgehobener historischer Persönlichkeiten gekommen ist.
Der international renommierte Historiker und ausgewiesene Indien-Kenner Dietmar Rothermund hat nun den einzigartigen und überaus reizvollen Versuch unternommen, die Lebenswege dieser beiden außergewöhnlichen Protagonisten der jüngeren indischen Geschichte parallel darzustellen. Reizvoll ist dieses Unternehmen vor allem deshalb, weil Gandhi und Nehru völlig verschiedenen Elternhäusern und sozialen Milieus entstammten, grundlegend andere Persönlichkeiten ausbildet haben und im Ergebnis zu gänzlich divergierenden Weltsichten gelangt sind. Die einzige biografische Gemeinsamkeit besteht derweil darin, dass sie beide ihre prägenden Jahre in England verbracht haben. Dennoch waren sie Partner und Freunde und haben für Rothermund auf ihre je eigene Weise den Unabhängigkeitskampf und die Entstehungsgeschichte des indischen Staates wesentlich beeinflusst: Während Gandhi ein intuitiv vorgehender Ethiker war, für den die richtige persönliche Haltung das Maß aller Dinge darstellte, war Nehru ein von den Naturwissenschaften faszinierter Pragmatiker, dessen primärer Antrieb darin bestand, Indien in die Moderne zu führen. Ging es Gandhi darum, eine Entwicklung von unten anzuregen, verfolgte Nehru einen dezidiert elitistischen Ansatz der Entwicklung von oben. Betonte Gandhi die Vorzüge einer bäuerlichen Lebensweise, so hielt Nehru eine umfassende Industrialisierung des Landes für unverzichtbar. Trotz dieser an sich diametral entgegengesetzten Konzeptionen haben Gandhi und Nehru ihrem Counterpart höchste Wertschätzung entgegengebracht und dessen Denkweisen zur Überprüfung der eigenen Standpunkte herangezogen. Aus diesem produktiven Reibungsverhältnis hat sich so etwas wie die Staatsphilosophie des postkolonialen Indiens herauskristallisiert. Hält man sich die entsetzlichen Geschehnisse zur gleichen Zeit in China mit Millionen von Toten vor Augen, wird für den Autor klar, welches historische Glück dem indischen Volk mit diesen beiden Führen beschieden war.
Bei Rothermunds Buch handelt sich weniger um eine Zusammenführung zweier klassischer Biografien, sondern mehr um eine lockere Kontrastierung bestimmter Lebensstationen der beiden Personen, die Licht auf die Art und Folgen ihrer Beziehung werfen. Sein Schreibduktus zeichnet sich durch einen angenehm unprätentiösen Stil aus, wobei im Hintergrund jederzeit sein enzyklopädisches Wissen über die indische Geschichte durchscheint. Fazit: Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen.
Buchdaten
Buchtitel - Gandhi und Nehru
Buchautor - Dietmar Rothermund
Verlag - Kohlhammer Verlag
Ort und Jahr - 2010
ISBN - 9783170213425
Preis - € 23,90