BERLIN. Die Dreifachkatastrophe von Fukushima ist mehr gewesen, als "nur" eine tragische Naturkatastrophe und ein schockierendes Beispiel für menschliches Versagen. 3/11 ? wie das Ereignis in Analogie zum 11. September 2001 genannt wird ? hat Japan in seinen Grundfesten erschüttert. Hierbei sind zwei Aspekte relevant: Einmal war (und ist) die Kernenergie ein zentraler Faktor in der wirtschaftlichen Erfolgsformel des Landes. Zum anderen hat die selbst verursachte Eskalation der Tragödie ein bestürzendes Licht auf die möglichen Folgen der japanischen Organisationskultur geworfen.
Jedenfalls waren die Ereignisse so dramatisch, dass sie genug Sprengstoff bergen, um auf Dauer einer neuen Öffentlichkeit zumindest den Weg zu bahnen. Insofern könnte Fukushima zu einer Zäsur in Japans Geschichte führen. Im vorliegenden Sammelband haben vier Japanologen/innen mit überaus runden und instruktiven Beiträgen versucht, die Gesamtproblematik umfassend zu beleuchten. Dabei wurde speziell darauf geachtet, dass japanische Stimmen zu Wort kommen.
Der Artikel von Enno Berndt zeichnet ein deprimierendes Bild: Fukushima war mitnichten ein unvorhersehbarer Schicksalsschlag. Der GAU war vielmehr, wie mit allerhand Zahlenmaterial belegt wird, das vorprogrammierte Resultat einer fatalen Kette von widrigen Umständen, unfassbarer Leichtfertigkeit beim Umgang mit Gefahren und einem nachgerade kriminellen Vertuschen von Fehlentwicklungen. Anfang 2011 erzeugte Japan in einer Region, die als Erdbeben-Hotspot gilt, mit einem veralteten Meilerpark 13 Prozent des weltweiten Atomstroms. Obwohl ab 2000 die Störungsmeldungen deutlich anstiegen und es zu Notabschaltungen kam, beließ man es bei Selbstüberprüfungen der Betreiber und plante, die Kapazitäten weiter aufzustocken. Szenarien über schwere Erdbeben, die eine Flutwelle auslösen können, machen schon seit 1990 die Runde, weshalb eindringlich vor einer "AKW-Erdbebenkatastrophe" gewarnt wurde. Umsonst, wie man heute weiß.
Es fragt sich daher, wie es dennoch zum Desaster kommen konnte. Hier spielten für Berndt zwei Dinge eine Rolle: Einmal eine Organisationskultur, die sich extrem schwer damit tut, auf unvorhergesehene Entwicklungen rational zu reagieren im Verbund mit einem gesellschaftlichen Klima, in dem man offene Debatten scheut. Hinzu kam eine unheilvolle Verquickung von Staat und Großunternehmen, die garantierte, dass sich die politischen und ökonomischen Eigeninteressen von Teilen des Establishments in der Atomfrage gegen alle Bedenken durchsetzen konnten. Allerdings zeigen die anderen Beiträge, dass immer mehr Japaner nicht länger bereit sind, die Diktate des "Atomstaats" widerspruchslos hinzunehmen. Unter Berufung auf japanische Autoren wird darauf hingewiesen, dass der Atomumfall sich in dem dichtbesiedelten Inselstaat mehr noch als in den verheerenden physischen Folgen in einer geradezu unerträglichen mentalen Verunsicherung auswirkt.
Ob es tatsächlich zu strukturellen Veränderungen kommen wird, sei aber noch unklar. Diese werde es realistischerweise nur durch den Aufbau einer effektiven gesellschaftlichen Gegenmacht geben. Eine Chance liege dabei im "Aufstand der Amateure", bei dem die Aktivisten der Anti-AKW-Bewegung die Möglichkeiten der neuen Medien nutzen, um einen Fachdialog mit der Öffentlichkeit zu führen und es im Ergebnis zu einer stärkeren Selbstermächtigung der Bürger kommt.
Buchdaten
Buchtitel - Japan nach Fukushima
Buchautor - Steffi Richter / Lisette Gebhardt (Hg.)
Verlag - Leipziger Universitätsverlag
Ort und Jahr - Leipzig, 2012
ISBN - 978-3-86583-692-2
Preis - € 24,00