BERLIN. Obwohl das ferne China mehr denn je in aller Munde ist und nahezu täglich neue Projektionen über die China dominierte Welt von übermorgen auf den interessierten Zeitungsleser herniederprasseln, ist das Wissen über die realen Träger der vielbeschworenen Umbrüche ? die Chinesen also ? bemerkenswert dürftig. Nimmt man die meist ziemlich unkonkrete Berichterstattung zum Maßstab, könnte man fast zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei China um einen hermetisch abgeriegelten Wirtschaftskoloss handelt, der keinerlei Blicke in sein Innenleben zulässt und dessen Einwohner ein ewiges Mysterium bleiben.
Diese allgemeine Kenntnislosigkeit ist erstaunlicherweise nicht nur bei flüchtigen Beobachtern, sondern häufig bei Personen anzutreffen, die unmittelbar mit dem Land zu tun haben. Engere private Kontakte sind offenbar Mangelware. Dies alles hat Folgen: Maximale Aufmerksamkeit gepaart mit minimalem Wissen ? das ist die nachgerade ideale Ausgangslage für die Bildung von Vorurteilen und kuriosen Fantasiebildern aller Art. Die mehr oder minder vorteilhaften Verhaltensweisen, die den Chinesen unterstellt werden, sind Legion.
Um nun Licht in das Dunkel der chinesischen Mentalität zu bringen, bedarf es am besten eines erfahrenen Insiders mit dem Drang zum Nahkontakt und einem scharfen Blick für die zahlreichen Zwischen- und Untertöne, die jede Kultur zu einem eigenen Kosmos machen. Genauso jemand ist Marcus Hernig, der seit zwanzig Jahren in wechselnder Mission in Ostasien weilt und sich gut auf das ironische Spiel mit Klischees und harmlosen Vorbehalten versteht. Das ist ein dankenswerter Ansatz, denn wer will schon staubtrockene Denkschriften lesen?
Sein in zweiter und erweiterter Auflage erschienenes Buch behandelt sowohl die Erlebnisse, die man als Laowai (Ausländer) in China gewinnen kann (wenn man sich denn unter die Einheimischen begibt) als auch die Vorstellungs- und Wertewelt der Chinesen. In den insgesamt acht Themenkapiteln zu Geschichte, Gefühlen, Geld etc. vermag es Hernig immer wieder recht geschickt, persönliche Eindrücke mit einschlägigem Faktenwissen zu einem anschaulichen Gesamtmix zu vermischen. Zudem geling es ihm, einen guten Eindruck von der unbändigen Dynamik, die das Riesenreich erfasst hat, zu vermitteln.
Dass der Autor vollauf in China angekommen ist, beweist der Umstand, dass er dem Aspekt der Nahrungsaufnahme, dem die Chinesen ja bekanntlich eine beinahe metaphysische Bedeutung beimessen, ein ganzes Kapitel und im Übrigen inzwischen auch ein separates Buch gewidmet hat. Erfrischend ist auch, dass kein belehrendes Therapieseminar zum interkulturellen Verstehen veranstaltet wird, sondern in den Schilderungen immer auch die Unmöglichkeit, fremde Kulturen umfassend verstehen zu können, durchschimmert.
Alles in allem ist das Werk also eine runde Sache. Beim Lesen stellt sich etwas ein, was bei diesem Genre eigentlich stets zentral sein sollte, nämlich eine sehr plastische und stimmungsvolle Vorstellung von weit entfernten Lebenswelten. Einzig zu bekritteln ist der teilweise arg bemüht überoriginelle Schreibstil des Autors. Diese Mühe hätte Hernig sich sparen können, denn die Ausführungen sind für sich genommen aussagekräftig genug.
Buchdaten
Buchtitel - China, Ein Länderporträt, 2. vollständig aktualisierte Auflage
Buchautor - Marcus Hernig
Verlag - Christoph Links Verlag
Ort und Jahr - Berlin 2012
ISBN - 978-3-86153-689-5
Preis - € 16,90