Für westliche Beobachter gilt Indien oftmals als das bessere China. Als friedliche Großmacht, die ein stabiles Wirtschaftswachstum hervorbringt, das Millionen den Weg aus der Armut gewiesen hat, sei das Land ein Hoffnungsträger für ganz Asien. Als wichtigstes Asset wird nahezu reflexhaft das demokratische Regierungssystem genannt. Hier, so das gängige Urteil, sei der Beweis dafür, dass es möglich ist, eine wirtschaftliche und soziale Modernisierung in einem Milliardenland mit der Gewährung von echten Bürger- und Freiheitsrechten zu verknüpfen.
Für westliche Beobachter gilt Indien oftmals als das bessere China. Als friedliche Großmacht, die ein stabiles Wirtschaftswachstum hervorbringt, das Millionen den Weg aus der Armut gewiesen hat, sei das Land ein Hoffnungsträger für ganz Asien. Als wichtigstes Asset wird nahezu reflexhaft das demokratische Regierungssystem genannt. Hier, so das gängige Urteil, sei der Beweis dafür, dass es möglich ist, eine wirtschaftliche und soziale Modernisierung in einem Milliardenland mit der Gewährung von echten Bürger- und Freiheitsrechten zu verknüpfen.Diese Vorzüge machen Indien zum quasi-natürlichen Verbündeten des westlichen Lagers, vor allem auch gegenüber der ewig autokratischen Volksrepublik. Das hört sich gut an und hat den Vorteil, dass das eigene Wertverständnis bestätigt wird. Da nimmt man es mit der indischen Wirklichkeit schon mal nicht ganz so genau. Denn die ist für ganze Bevölkerungsgruppen ein einziger Albtraum. Und abgesehen von punktuellen Nachforschungen scheint man sich hierzulande mit dem Ausmaß der indischen Tragödie auch nicht eingehender beschäftigen zu wollen.
Zwei der renommiertesten deutschen Asien-Journalisten konnten sich mit dieser unerhörten Realitätsverweigerung offenbar nicht mehr abfinden und haben eine Anklage verfasst, die an Eindeutigkeit und Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Abgesehen von dem an sich schon empörenden Fakt, dass Indien von einer skrupellosen Selbstbereicherungselite regiert wird, die gar nicht daran denkt, etwas gegen die immer noch verbreitete Armut zu unternehmen, rücken Blume und Hein speziell das bittere Los von Mädchen und Frauen in den Mittelpunkt ihrer Schrift. Dies ist insofern konsequent, als gerade sie von den diversen indischen Plagen wie Ausbeutung, Vernachlässigung, Hunger und Vergewaltigungen im besonderen Maße betroffen sind. Dass es sich hierbei buchstäblich um eine Frage von Leben und Tod handelt, zeigt sich etwa daran, dass pro Jahr 1,7 Millionen Kinder schlicht verhungern. Auf der anderen Seite stehen eine selektive Abtreibung weiblicher Föten und gesellschaftlich geförderte Selbsttötungen von mittellosen Witwen.
Wie kommt es, dass eine alte Kulturnation derart gleichgültig auf das Schicksal seiner schwächsten Mitglieder reagiert? Man könnte geneigt sein, hierfür eine mittelalterlich-patriarchalische Werteordnung verantwortlich zu machen. Die Wahrheit ist den Autoren zufolge aber viel banaler und trostloser. Die Zuspitzung der Misere sei vor allem auch ein Resultat des Wirtschaftsboom der letzten Jahre. Dieser habe einem rigorosen Materialismus Vorschub geleistet, der zu einer Entwertung von Menschen geführt hat, die keinen unmittelbaren ökonomischen Nutzen haben. Hinzu kommen die traditionellen Übel wie Korruption und Misswirtschaft. In der Folge entsteht ein menschenverachtendes System, das jedem demokratischen Gedanken Hohn spricht.
Die Ausführungen sind überaus unerfreulich, geben aber lediglich die Fakten wieder. Den beiden Autoren, die das Land gut kennen, geht es nicht darum, Indien in Bausch und Bogen zu verdammen, sondern eine überfällige Debatte anzustoßen, bei der der Westen aus seinem folkloristischen ?Indien-Taumel? erwacht und beim Kontakt mit den indischen Eliten die Missstände zumindest zur Sprache bringt.
Buchdaten
Buchtitel - Indiens verdrängte Wahrheit
Buchautor - Georg Blume / Christoph Hein
Verlag - edition Körber-Stiftung
Ort und Jahr - Hamburg 2014
ISBN - 978-3-89684-145-4
Preis - € 17,00