Kasachstan wird oft verkannt: In der landläufigen Vorstellung gilt es vollkommen zu Unrecht als rückständiges Land. Dabei ist Kasachstans exportorientierte Konjunktur der Grösse nach mit der von Griechenland, Pakistan und Portugal vergleichbar. Das Privateinkommen ist doppelt so hoch wie in China und liegt weit über dem bekannterer Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko und der Türkei.
Ein bisschen wie Saudi-Arabien
Die kasachische Landschaft ist von der Wüste prägt. Ihre Ausdehnung ist gewaltig und entspricht drei Vierteln der Fläche von Westeuropa. Zudem ist sie kaum bevölkert. Die Bevölkerungsdichte liegt weltweit auf einem der letzten Plätze, nur knapp vor Kanada und Australien. Doch unter der öden Oberfläche liegt grosser Wohlstand, besonders angesichts einer Bevölkerung von gerade einmal 17 Millionen Einwohnern. Die Öl- und Gasreserven liegen weltweit etwa auf dem 10. Platz und sind damit mit denen von Nigeria und Indonesien vergleichbar. Die Kohleförderung ist noch höher. Beim Uran ist Kasachstan die Nummer 1: Das Land fördert ein Drittel der weltweiten Produktion. Beim Chrom liegt das Land auf Platz 2. Außerdem werden beträchtliche Mengen an Kupfer, Blei und Zink gefördert.
Fast neureich
Der Reichtum der Bodenschätze ist zu den normalen Kasachen nicht nur durchgesickert, er hat sich geradezu über sie ergossen. Seit das Land 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hat, hat sich das Pro-Kopf-Einkommen vervierfacht. Die Arbeitslosenzahl ist aus dem zweistelligen Bereich gefallen und lag im letzten Jahr bei 5,2%. Noch frappierender ist die Armutsrate: Sie liegt heute unter 5%, während zu Zeiten der Sowjetunion etwa die Hälfte der Bevölkerung am Existenzminimum lebte.
Der rasant gestiegene Wohlstand ist vor allem in den größeren Städten Almaty, Astana und Schymkent nicht zu übersehen. Menschen, die vor zwanzig Jahren von der Hand in den Mund lebten, haben nun Kühlschränke (93%), Waschmaschinen (82%) und Autos (67%). Die Zahlen weichen im Einzelnen voneinander ab, im Grossen und Ganzen kann man jedoch sagen, dass vor 25 Jahren die Hälfte der Bevölkerung sehr arm war und heute die Hälfte der Bevölkerung zur Mittelschicht gehört. Und einige Glückliche sind mittlerweile einfach nur reich. Als im August dieses Jahres das neue iPhone 6 von Apple auf den Markt kam, bot ein kasachischer Importeur ein vergoldetes Sondermodell an. Fast 100 Stück wurden sofort an prestigeorientierte Kunden vor Ort verkauft ? und das zu einem Preis von je US$ 4300, der einem die Tränen in die Augen treibt.
Rohstoff-Industrie
Betrachtet man die größten Unternehmen in Kasachstan, ist der Reichtum an Bodenschätzen offensichtlich. Das größte Unternehmen des Landes ist KazMunaiGas, das staatseigene Gas- (und Öl-) Unternehmen, das auch zwei Raffinerien betreibt. Auf dem zweiten Platz liegt Eurasian Natural Resources, ein Bergbau-Gigant, der seit 2013 an der London Stock Exchange notiert ist. Auch die viert- und fünftgrössten Unternehmen sind Erdölförderer: MangistauMunaiGaz und KazTransOil. In den Top 5 findet sich nur ein einziges Unternehmen, das nicht im Bergbau- oder Energiesektor angesiedelt ist: Die Nummer 3, Kcell, ist Kasachstans führender Mobilfunkbetreiber.
Konjunktur
Auch wenn die kasachische Konjunktur in der Finanzkrise ins Stocken geriet, hat sie sich seitdem stabilisiert.Die Zukunft sieht rosig aus. Das BIP-Wachstum lag seit 2010 über 6%. Obwohl die Auslandsinvestitionen fast regelmäßig über 10 Milliarden US$ betragen, ist die Leistungsbilanz Kasachstans seit 2010 durchgegend im Plus. Auch die Inflation bleibt im einstelligen Bereich. Im Januar 2015 ist ein weiterer Schub zu erwarten, wenn die Eurasische Wirtschaftsunion in Kraft tritt und in Kasachstan, Russland und Weissrussland einen Binnenmarkt mit 171 Millionen Menschen schafft.
Russland: näher und ferner
Kasachstans Beziehung zu Russland hat eine lange Geschichte. Vor der Unabhängigkeit wurde Kasachstan rund zwei Jahrhunderte von Russland beherrscht. Seit der Unabhängigkeit sind zwei Millionen ethnische Russen in ihr Heimatland zurückgekehrt. Ethnische Kasachen treten in allen Bereichen des Lebens stärker in Erscheinung. Dennoch bleibt die russische Präsenz enorm. Ethnische Russen machen noch immer ein Drittel der Bevölkerung aus und Russisch ist die vorherrschende Sprache der Wirtschaft und der Regierung. Kasachstans wichtigster Handelspartner ist Russland und die kasachische Wirtschaft wird stark von ihrem nördlichen Nachbarn beeinflusst. So zwang beispielsweise die Abwertung des russischen Rubel im Frühjahr 2014 die kasachische Notenbank zur Abwertung der Landeswährung, des Tenge.
Keine gewöhnliches Touristenziel
Wenn all das Kasachstan eher gewöhnlich erscheinen lässt ? keine Sorge. Nach westlichem Empfinden liegt Kasachstan in Sachen Schrulligkeit ganz vorne. Viele der Sehenswürdigkeiten des Landes befinden sich in Astana, das vom Sender CNN als die "seltsamste Hauptstadt der Welt" bezeichnet wurde. Astana wurde seit 1997 fast vollständig neu gebaut. Die futuristische Architektur der Stadt kann mit dem weltweit größten Zelt, einer gigantischen Pyramide und einem Turm aufwarten, der wie die Landestation einer fliegenden Untertasse aussieht. Außerdem kann man eine echte Landestation für fliegende Untertassen besichtigen: Das Baikonur Cosmodrome ist ein Weltraumbahnhof, der an Russlands Programm für bemannte Raumfahrt vermietet wird.
Schliesslich gibt es noch ein rasch wachsendes Angebot an Tourismus rund um die Jurte, das Zelt der Nomaden. Besucher können in das Nomadenleben hineinschnuppern, indem sie in den traditionellen Behausungen essen, trinken und schlafen, wobei diese oftmals mit Klimaanlage, Satellitenempfang und WLAN ausgestattet sind. Ein besonderes Highlight ist auch das Nationalgericht «Gekochtes Schaf», womit tatsächlich das gesamte Schaf gemeint ist, einschliesslich des Kopfes und der Innereien. Dieses Gericht wird mit den Händen gegessen. Ein weiterer Höhepunkt ist der Nationalsport, eine Art Polo, bei dem allerdings nicht mit dem Schläger ein Ball gespielt wird. In Kasachstan versuchen die Spieler zu Pferde mithilfe ihrer Arme und Hände eine tote Ziege über die Ziellinie des Gegners zu befördern. Das eine heisst Beschbarmak und das andere Buzkaschi ? oder umgekehrt?
Asien Kurier, Nr. 92 vom 1. Jan. 2015: Kasachstan legt neues Konjunkturpaket auf