Japan gilt noch immer als eines der exotischsten und unverstandensten Länder überhaupt. Mangelt es schon an Kenntnissen der grundlegenden Strukturen und Antriebsmomente des japanischen Gemeinwesens, so gerät kaum in den Blick, dass Japan möglicherweise dasjenige Land der entwickelten Welt ist, in dem sich aktuell die tiefgreifendsten Veränderungen vollziehen.
So gesehen ist Japan ein Avantgarde-Land, das Einblicke in das Wesen von postmodernen Gesellschaften ermöglicht. Eine gute Gelegenheit, seriöses Grundwissen über Japan zu erwerben, stellt das Lehrbuch von Kevenhörster, Pascha und Shire dar. Da es sich bei den Autoren um einen Politologen, einen Ökonomen und eine Soziologin handelt, kommen die drei zentralen Analyseperspektiven sozialwissenschaftlicher Forschung gleichberechtigt zum Zuge. Vor allem ist es mit diesem Ansatz möglich, aufzuzeigen, wie hoch das Ausmaß der Veränderungen ist.
Denn Japan gerät von allen drei Seiten unter massiven Druck: ökonomisch, sozial und politisch. Am deutlichsten sticht dabei die wirtschaftliche Malaise hervor: Obwohl Japan immer noch ein wohlhabendes Land mit international konkurrenzfähigen Unternehmen ist, sind Krisensymptome unverkennbar. So ist angesichts einer exorbitant hohen Verschuldung, einer steigenden Arbeitslosigkeit und einer grassierenden Korruption offensichtlich geworden, dass das traditionelle System einer staatlichen Industrieförderung an seine Grenzen gelangt ist und neue Formen der Selbstregulierung eingeführt werden müssen. Allerdings stoßen neue Arrangements auf den gebündelten Widerstand der etablierten Beziehungsnetzwerke, wobei speziell die Bürokratie eine effektive Vetomacht besitzt.
Auf der anderen Seite fehlen zunehmend die Mittel, um nicht konkurrenzfähige Unternehmen zu subventionieren. Entsprechend mehren sich die Stimmen, die fordern, dass sich das Land weiter öffnen und den Protektionismus abbauen soll. Dadurch würden aber die ohnehin schon unterminierten japanischen Werte und Normen noch weiter erodieren. Schon jetzt hat die Zunahme von "nicht-regulärer Beschäftigung" dazu geführt, dass die Geschlechterbeziehungen einer Revision unterzogen wurden, womit ein negativer Effekt auf Eheschließungen und damit auch auf die Geburtenzahlen einhergeht. Dabei stellt der demografische Wandel die vielleicht elementarste Herausforderung dar. Da das japanische Rentensystem stark betriebszentriert ist, droht mit einer Dispensierung der Unternehmen aus der sozialen Verantwortung ein wesentlicher Pfeiler der sozialen Architektur wegzufallen. Auch die Familien können diesen Ausfall nicht kompensieren, weil sich in Anbetracht einer steigenden sozialen Ungleichheit der gesellschaftliche Zusammenhalt sukzessive auflöst und hedonistisch-materialistische Einstellungen auf dem Vormarsch sind.
Hier wäre eine handlungsfähige Politik gefragt, die kraftvolle, aber umsichtige Reformen lanciert. Allerdings ist die politische Klasse mit sich selbst beschäftigt und zu einer Integration der auseinander laufenden Interessen nicht fähig. Hinzu kommen abnehmende politische Loyalitäten, sodass gerade diejenigen Bedingungen untergraben werden, die Voraussetzung für eine Bewältigung der Krisen sind. Dies alles kennt man so ähnlich auch aus anderen Industriestaaten, aber im Falle von Japan werden die Dilemmata sich enttraditionalisierender Gesellschaften besonders deutlich. Den Autoren kommt der Verdienst zu, die japanischen Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht zu haben.
Paul Kevenhörster u.a.: "Japan" - Wirtschaft - Gesellschaft - Politik, 2. aktualisierte Auflage, VS Verlag f�r Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, 421 Seiten, 34,90 Euro, ISBN: 978-3-531-15238-7